Wenn Wissenschaftsredakteure aufgefordert werden, Beispiele für die Grenzen des menschlichen Wissens aufzuzeigen, dann kommen sie meistens mit den ganz großen Kloppern: Warum gibt es Materie? Wie entsteht Bewusstsein? Gibt es intelligentes Leben auf der Erde? Wenn ich das nächste Mal aufgefordert werde, so ein Beispiel zu geben, werde ich sagen: Warum stinkt mein Urin so erbärmlich, wenn ich Spargel gegessen habe?
Das weiß bis heute auch noch keiner. Jedenfalls nicht ganz genau. Und im Gegensatz zu der Frage, was vor dem Urknall war, beschäftigt mich das jetzt in der Spargelsaison fast täglich. Ich bin damit auch nicht allein: Schon Benjamin Franklin erboste sich über den Gestank, während Proust meinte, der Duft verwandele seinen Nachttopf in eine Parfümflasche.
Der polnische Chemiker Marceli Nencki wurde 1891 als Erster tätig: Er ließ vier Männer je zwei Kilogramm Spargel essen, sammelte ihr Urin, untersuchte es und erklärte das Molekül Methanethiol zum Übelriecher. Seitdem haben Forscher rund zwanzig weitere Substanzen zur Ursache des Geruchs erklärt. Welche nun den Großteil des Ärgers verursacht, ist umstritten. Gemeinsam haben sie eigentlich nur eines: Sie enthalten mindestens ein Schwefelatom. Damit können sie, beim Kochen oder im Körper, eigentlich nur aus der Asparagusinsäure entstehen. Das ist die einzige schwefelhaltige Verbindung, die fast ausschließlich in Spargel vorkommt.
Es gibt aber noch einen zweiten Streitpunkt: Britische Forscher kamen 1956 zu dem Schluss, dass nur etwa die Hälfte aller Menschen nach Spargelgenuss die übelriechenden Substanzen im Urin ausscheidet. Andere Forscher widersprachen: Einige Menschen seien lediglich nicht in der Lage, die Substanzen zu riechen.
Anfang dieses Jahres veröffentlichte nun eine amerikanische Forschergruppe eine Arbeit, in der sie die beiden Hypothesen testete: 38 Männer und Frauen gaben je eine Urinprobe nach Spargelverzehr und eine, nachdem sie Brot gegessen hatten. Später mussten sie dann mehrfach aus zwei Urinproben derselben Person die Spargelprobe identifizieren. Das Ergebnis: Zwei Testpersonen konnten keinen Unterschied riechen. Die Forscher fanden bei ihnen eine Mutation nahe des Geruchsrezeptor-Gens OR2M7.
Aber auch die andere Hypothese stimmt. Bei drei Teilnehmern der Studie war kein Geruchsunterschied im Urin festzustellen. Warum, das wissen die Wissenschaftler noch nicht. Dabei könnte gerade das sehr interessant sein. Schließlich zerlegt unser Körper hunderttausende verschiedene Moleküle – und nutzt dafür eine vergleichsweise kleine Zahl von Eiweißen. Gut möglich also, dass ein Mensch, dessen Körper die Asparagusinsäure anders abbaut, auch bestimmte Medikamente anders verarbeitet. Dann könnte es in Packungsbeilagen eines Tages etwa heißen: „Sollte Ihr Urin nach Spargelgenuss anders riechen, nehmen Sie nur eine halbe Tablette.“
Da ist es dann wieder pragmatischer, wie ein Gentlemen’s Club in London mit dem Spargel-Urin umgegangen ist. Jahrelang soll es dort ein Schild gegeben haben mit der Aufschrift: „Mitglieder werden gebeten, sich während der Spargelsaison nicht in den Regenschirmständer zu erleichtern.“

In meiner Kolumne „Wissenshunger“ schreibe ich am ersten Sonntag jedes Monats im Tagesspiegel über Ernährung und Wissenschaft.