Gemüse und Obst senken das Krebsrisiko drastisch, besagten Untersuchungen. Stimmt nicht, weiß man jetzt. Nur Langzeitbeobachtungen sind verlässlich


Es klang so plausibel: Obst und Gemüse helfen gegen Krebs. Das predigten jahre- lang Ärzte und Ernährungsberater. Und sie konnten auf die Wissenschaft verweisen. In sogenannten Fall-Kontroll-Studien wurden Menschen mit Krebsdiagnose mit gesunden Menschen verglichen. Ein wichtiger Unterschied: Die gesunden Menschen nahmen mehr Obst und Gemüse zu sich. Das Krebsforschungsinstitut in den USA zählte 156 Studien, von denen 128 diesen Effekt zeigten. Da war es naheliegend, Vitaminbomben und Grünzeug eine starke, schützende Wirkung zuzuschreiben.

Naheliegend, aber offenbar falsch. Seit 2005 zeichnen zahlreiche Untersuchungen ein ganz anderes Bild: „Wenn es einen schützenden Effekt gibt, dann ist er äußerst gering“, sagt Heiner Boeing von der Abteilung Epidemiologie des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam (DIfE).

Die neuen Studien sind prospektiv, das bedeutet, dass gesunde Menschen jahrelang über ihre Ernährung befragt wurden. Erst nach Jahrzehnten wurde geschaut, wer an Krebs erkrankte und wer nicht.

„Das Problem ist, dass in der Kontrollgruppe von Fall-Kontroll–Studien besonders gesundheitsbewusste Menschen teilnehmen“, sagt Boeing. Dadurch ist es offenbar zu einem verzerrten Ergebnis gekommen – und dasselbe könnte für zahllose andere Studien aus der Ernährungsforschung gelten. Denn in der Vergangenheit wurden vor allem Fall-Kontroll-Studien durchgeführt. „Wer früher in diesem Bereich Karriere machen wollte, der musste solche Studien machen“, sagt Boeing.

Das ist nur ein Grund, weshalb es so schwer ist, gesicherte Erkenntnisse über eine gesunde Ernährung zu gewinnen. Studien über Lebensmittel sind weitaus komplizierter als etwa Arzneimittelprüfugen. „Wenn Sie ein Medikament testen, haben Sie in der Regel eine Substanz, die mit einer hohen Wirksamkeit auf einzelne Prozesse im Körper einwirkt“, sagt Gerhard Rechkemmer, Präsident des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel. „Dagegen sind Lebensmittel äußerst komplexe Gemische aus zahlreichen Substanzen, die im Körper viele verschiedene Effekte auf unterschiedliche Zellen und Organe haben können.“ Das macht dem Ernährungsforscher das Leben schwer.

Für den interessierten Laien ist es nicht besser. Zwischen guten und schlechten Studien zu unterscheiden, ist nicht einfach. Hinzukommt, dass sich bei Essen und Trinken alle Menschen als Experten sehen. „Deshalb äußern sich in zahllosen Broschüren, Büchern und Ratgebern Menschen zu diesen Themen, die keine Ahnung haben“, warnt Rechkemmer. Er empfiehlt, sich auf seriöse Quellen zu verlassen, wie etwa die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Aber welche Ernährungstipps können dann überhaupt als gesichert gelten? Nicht sehr viele. „Die Kalorien, die ich aufnehme, sollten im Gleichgewicht sein mit den Kalorien, die ich verbrenne“, sagt Rechkemmer. „Das ist ja auch logisch.“ Und Boeing sieht im Bereich der Kohlenhydrate zwei Effekte, die hervorragend belegt sind: „Zuckergesüßte Getränke erhöhen das Risiko für Diabetes und Fettleibigkeit. Wer dagegen vor allem Kohlenhydrate aus Getreide zu sich nimmt, der senkt das Risiko für viele Krankheiten ab, vermutlich wegen der ebenfalls enthaltenen Ballaststoffe.“

Andere Tipps, die längst zum vermeintlichen Allgemeinwissen zählen, sind dagegen immer noch umstrittene Forschungsfragen. Zum Beispiel, ob eine fettreiche Ernährung wirklich das Risiko der Fettleibigkeit steigert. „Wir brauchen gute Daten und dafür brauchen wir große Studien“, sagt Boeing. Die kosten viel Geld und brauchen viel Zeit. Für manche Effekte ist es vermutlich nötig, Menschen ein Leben lang zu begleiten. Schließlich könnten Krankheitsursachen auch Jahrzehnte zurückliegen.

Die gute Nachricht: Langzeitstudien, in denen tausende Menschen jahrelang befragt und untersucht werden, geschehen immer häufiger. Heiner Boeing schätzt, dass inzwischen fünf Millionen Menschen weltweit an solchen Studien teilnehmen. Die Ergebnisse könnten in den nächsten Jahren viele neue Erkenntnisse liefern. „In den nächsten 20 Jahren werden wir sehr viel mehr lernen als bisher“ glaubt Boeing. „Aber nicht alle Erkenntnisse werden dann wichtig sein und einen großen Effekt haben.“

„Wir dürfen vor allem nicht vergessen, dass solche Studien zunächst nur einen Zusammenhang zeigen“, sagt Rechkemmer. „Wir brauchen dann immer noch grundlegende Forschung, um zu verstehen, ob die Gesundheitswirkung wirklich auf einzelne Produktgruppen zurückgeführt werden kann und um die Mechanismen zu verstehen.“

Es ist also noch ein langer Weg zu wirklich gesicherten Erkenntnissen über eine gesunde Ernährung. Die Chancen stehen jedoch gut, dass sie dann länger Bestand haben werden als die Empfehlung, dem Krebs mit Obst und Gemüse vorzubeugen. Und selbst die hat ihre guten Seiten. Denn auch wenn der Fruchtcocktail nicht vor Krebs schützt, das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt er offenbar schon. Zumindest das bestätigen die Daten der neuen Studien.

Erschienen im Tagesspiegel am 15. Mai 2011.