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Fliegen zum Frühstück, Maden zu Mittag: Milliarden Menschen auf der Welt ernähren sich auch von Insekten. Ein Vorbild für den Westen, sagen Wissenschaftler
An der Ostküste der USA bereiten sich die Menschen zurzeit auf eine Invasion vor. Hunderte Millionen Zikaden sollen dort in den nächsten Wochen aus der Erde krabbeln. 17 Jahre haben die Jungtiere der „Brut II“ in der Erde ausgeharrt. Nun treibt es sie alle gleichzeitig an die Oberfläche, um sich zu häuten, zu paaren und dann zu sterben.
Was an eine biblische Plage erinnert, ist für manche Feinschmecker, als würde eine Herde argentinischer Rinder in ihrem Vorgarten auftauchen. Sie rösten oder kandieren die Insekten und schwärmen für ihren nussigen Geschmack.
Was nach kulinarischer Barbarei klingt, ist für einen beträchtlichen Teil der Menschheit normal.
Vor allem in tropischen Regionen liefern Raupen, Käfer und Co. begehrte Eiweiße. „Insekten haben eine große Bedeutung für die Ernährungssicherung der Menschen dort“, sagt Eva Müller von der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Vergangene Woche hat die FAO einen Bericht veröffentlicht, der auf fast 200 Seiten darlegt, wie wichtig Insekten für die Welternährung sind. „Insekten haben für den menschlichen Verzehr und für die Viehzucht ein riesiges Potenzial, das noch nicht genügend genutzt wird“, sagt Müller.
Jahrzehntelang interessierten sich Biologen fast ausschließlich für das Vorkommen und Verhalten von Insekten. Wie viele Käfer gibt es auf Bali? Wie paaren sich Libellen? Was passiert, wenn eine Ameisenkolonie ihre Königin verliert? Doch inzwischen werden Insekten auch als Rohstoff interessant: Biotechnologen suchen in ihnen nach Stoffen für Medizin und Industrie (siehe Kasten), Ernährungswissenschaftler prüfen sie auf ihren Nährwert, und Lebensmitteltechniker erforschen, wie sie gezüchtet, gelagert und verpackt werden können.
Rund zwei Milliarden Menschen auf der Welt ernähren sich auch von Insekten. Sie grillen Grashüpfer, marinieren Maden und rösten Raupen. Die saftigen Sagowürmer, Larven eines Rüsselkäfers, der Palmen befällt, werden in vielen tropischen Ländern gegessen. In Südafrika werden jedes Jahr fast zehn Milliarden Mopaneraupen geerntet. Und in Mexiko sind die Raupen der Motte Hypopta agavis (die sich am Grund vieler Flaschen Mescal finden) so beliebt, dass Agavenbauern Sicherheitskräfte anstellen, um Wilderer fernzuhalten. Selbst Silberfische und Läuse kommen in manchen Ländern auf den Teller. 1900 essbare Insektenarten haben Wissenschaftler inzwischen aufgelistet.
Doch in vielen Entwicklungsländern reden die Menschen nur ungern über ihre Insektendiät. „Sie wissen, dass wir das für primitiv halten oder sogar denken, sie essen das, weil sie sonst verhungern“, sagt Arnold van Huis, der an der Universität Wageningen Insekten erforscht und an dem Bericht der FAO beteiligt war. Wegen dieser Vorurteile seien Insekten als Nahrungsquelle kaum untersucht.
Dabei waren die Tiere früher auch in Europa Teil der Nahrung. Schon die Römer und Griechen aßen Heuschrecken und andere Krabbeltiere. Und Maikäfersuppe war in Deutschland noch im 19. Jahrhunert ein beliebtes Rezept. Trotzdem hatten Insekten in Europa nie denselben Stellenwert wie in anderen Gegenden der Welt. „Zum einen gibt es in den gemäßigten Zonen im Winter keine Insekten“, sagt van Huis. „Außerdem sind die Tiere in den Tropen deutlich größer und finden sich häufig in riesigen Ansammlungen, die das Ernten leicht machen.“
Heute erregen Insekten bei den meisten Europäern Ekel. „Die westliche Sicht ist, dass Insekten krankheitsübertragende Tiere sind, und sie zu essen ist ein Tabu“, sagt Alan Yen, der im Auftrag des Bundesstaates Victoria in Australien an essbaren Insekten forscht. Die Verbreitung „westlicher“ Ernährungsgewohnheiten führe in vielen Regionen der Welt dazu, dass Insekten vom Speiseplan verdrängt werden, warnt er. Dabei sollte es genau umgekehrt sein: Meint der Westen es ernst mit der Reduzierung von Treibhausgasen und nachhaltigem Wirtschaften, sollte er stärker auf Insekten setzen, sagt Yen.
Denn Insekten produzieren weniger Treibhausgase als Rinder und Schweine und benötigen nur ein Zehntel so viel Land. Und sie sind effizienter. Insekten produzieren pro Kilogramm Futter 12 mal so viel Nahrung wie Rinder und 5 mal so viel wie Schweine. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist ein größerer Teil ihres Körpers essbar. Rechnet man bei Grillen zum Beispiel das Außenskelett aus unverdaulichem Chitin und die Beine ab, die viele Menschen lieber entfernen, bleiben 80 Prozent des Körpergewichts übrig. Bei Hühnern und Schweinen sind etwa 55 Prozent essbar, bei Rindern 40 Prozent. Außerdem benötigen Insekten viel weniger Nahrung pro Kilogramm Körpergewicht. „Das liegt vermutlich daran, dass sie Kaltblüter sind und ihre Körpertemperatur nicht aufrechterhalten müssen“, sagt van Huis.
Trotz ihres Rufs als Krankheitsüberträger gefährden Insekten nicht die Gesundheit. Im Gegenteil: Weil die Tiere evolutionär weiter vom Menschen entfernt seien als Schweine oder Rinder, gebe es wahrscheinlich weniger Keime, die auch Menschen krank machen können, sagt van Huis. Und Insekten seien gesund. „Sie ähneln gewöhnlichem Fleisch, und in manchen Dingen sind sie sogar gesünder.“ So enthalten Insekten ähnlich viele Omega-3-Fettsäuren wie Fische und sind außerdem eine wichtige Quelle für Spurenelemente wie Eisen und Zink. Selbst Insekten der gleichen Gruppe können sich in ihrer Zusammensetzung stark unterscheiden. Deshalb sei es wichtig, die Tiere genauer zu erforschen.
Zunächst könnten Insekten vor allem als Tierfutter eingesetzt werden. „Die Effizienz von Insekten als Viehfutter ist wahrscheinlich höher als die von Soja, Mais oder Fischmehl“, sagt die FAO-Expertin Müller. Hinzu kommt, dass sie sich auch mit landwirtschaftlichen Abfällen aufziehen lassen.
Die Industrie interessiert sich besonders für die Larven der Soldatenfliege. „Die fressen im Grunde alles“, sagt der Insektenforscher Andreas Vilcinskas von der Universität Gießen. Die Larven können den Mist, der im Stall anfällt, in Körpermasse mit 42 Prozent Eiweiß und 35 Prozent Fett umwandeln und dann wiederum als Nahrung für Hühner, Fische oder Schweine genutzt werden. „Das wird in Zukunft im Tonnenmaßstab produziert werden“, prophezeit er.
Doch die meisten Firmen, die zurzeit Insekten herstellen, tun das in geringen Mengen für Haustiere oder Zoos, sagt Elaine Fitches von der staatlichen britischen Nahrungsmittelforschungsagentur Fera. Fitches koordiniert ein Projekt zur Insektenzucht, das die EU mit drei Millionen Euro fördert. „Insekten zu züchten mag einfach klingen, aber um das im industriellen Maßstab wirtschaftlich zu machen, braucht es noch einige Arbeit“, sagt Fitches. So wollen die Forscher untersuchen, wie die Zucht automatisiert werden kann. Außerdem wollen sie Schweine und Geflügel mit den Insekten füttern und so die Sicherheit und den Nährwert der Insekten untersuchen.
Auch die Gesetze müssen geändert werden. Viele Nutztiere dürften in der EU nicht mit anderen Tieren gefüttert werden, sagt van Huis. „Damals hat bei dem Wort ,Tiere’ niemand an Insekten gedacht.“ Schon zum 1. Juni erlaubt die EU nun, Fische in Aquakultur mit Insekten zu füttern. Auch die Regeln für Schweine und Geflügel sollen angepasst werden.
Forscher wie Yen wollen aber auch den Menschen animieren, mehr Insekten zu essen. „Einige schmecken wirklich sehr gut“, sagt er – und preist zum Beispiel die Witchetty-Made an, die von den Aborigines gegessen wird. „Wenn die durchgekocht ist, schmeckt sie wie ein Spiegelei“, sagt Yen. Sei das Innere noch flüssig, ähnele sie eher einer Maissuppe.
Der Ekel, den viele Europäer dabei empfinden dürften, lässt sich überwinden, glaubt Müller. „Wir haben uns ja auch an Sushi gewöhnt. Rohen Fisch hat früher niemand gegessen.“ Und Yen glaubt, dass die Art der Zubereitung eine große Rolle spielen wird. „Wenn Sie ein ganzes Insekt auf den Teller legen, schockt das viele“, sagt er. „Aber wenn Sie das zu Eiweißpulver zerkleinern und im Essen verwenden, denken die da gar nicht weiter drüber nach.“ Van Huis hat Frikadellen aus Insekten hergestellt und an Studenten getestet. „9 von 10 fanden die Insektenbällchen besser“, sagt er.
Auf die Speisekarte schaffen es Insekten in Europa zurzeit eher als avantgardistisches Abendessen für Gourmets: Käfer statt Kaviar, Fliegen statt Foie Gras. So hat das berühmte Kopenhagener Restaurant „Noma“ Ameisen und Heuschrecken auf dem Menü. Und auf einem Hausboot nebenan experimentieren Köche und Forscher im „Nordic Food Lab“ mit verschiedenen Zubereitungsformen für Insekten. In Anlehnung an Sojasoße haben sie zum Beispiel Heuschrecken und Maden kleingehäckselt und dann fermentieren lassen. Das Ergebnis ist eine starke, würzige Soße. Viele Menschen glaubten zwar, dass Insekten für die Ernährung der Zukunft wichtig seien, sagt der Chef des Labors, Ben Reade. „Aber nur wenige von ihnen konzentrieren sich darauf, Rezepte zu entwickeln, die schmecken.“